Proust. !


Auf der Suche nach …

Proust. Der verlorenen Zeit. Durchhaltevermögen. Dem Grundstoff des Selbst. Wer weiß das schon. Hauptsache Suchen. Eine Gedankenansammlung

Es gibt Werke die berühren einen schon bevor man sie gelesen hat. Dadurch dass sie im kollektiven Bewußtsein einen so großen Wiederhall erzeugt haben, dass das Echo aus den unterschiedlichsten und fernsten Winkeln auf einen trifft. Mit jedem Aufprall nimmt die schallende Informationsdichte ab, und nachdem es wieder und wieder von den Grenzen der menschlichen Sphäre zurückgeworfen wurde, ist es oft nur noch der Name. Proust. Doch durch das echoenhafte, überdauernde, hat er eine Gewalt eingenommen, als würde alle Bedeutung seiner Werke in dieses eine Wort komprimiert worden sein. Wohlmöglich steht er für mehr als seine einzelnen Werke.

Er hallt wieder aus Büchern aller Genres, man vermeint fast mit Vorliebe aus Fantasy- und Science Fiction-Werken, aus Filmen und aus Alltagsgesprächen denen ein mondäner Anstrich verliehen werden soll, bis er einem schließlich wie ein guter Bekannter scheint, ohne ihn jemals kennengelernt zu haben.

Ein zeitlicher Ausläufer aus der eigenen schon bekannten Lesezukunft erreichte mein eigenes Leben aus dem Film Jeg reiser alene, basierend auf einem Roman von Tore Renberg, in dem der Name Proust für die exaltierte Wirklichkeitsferne des geisteswissenschaftlichen und ehrgeizigen Menschen steht, und des öfteren in dem manisch fixiertem Ausschrei: Proust! Mein Leben ist wichtig. Es geht darin um Proust! ausbricht. Eine künstliche Bedeutungsüberhöhung die das Leben so bedeutsam glücklich macht.

Und dann gibt es da noch persönlichere Echos. Ein Werk aus der literarischen Zeit, der man ohnehin verfallen ist, ein Geschenk, und ein Gespräch mit einem lieben Freund in dem beiläufig bemerkt wird, »es wird Dir gefallen«. Und die Besonderheit liegt nicht in dem doch recht einfachen Satz. Sondern in der wissenden Wärme die darin liegt.

. . . . . . . . . Tag null . . . . . . . . .

Vorspann. Der Hase mit den Bernsteinaugen, Edmund de Waal

Das Buch, das mir Señorita Ticita geschenkt hat, ist eine wirkliche Perle. Und Auf der Suche nach der verlorenen Zeit so nah, dass ich schon jetzt immerzu an einen nahen Freund denke, und wie schön es gewesen wäre mit ihm die Freude daran zu teilen. Wie sehr ihm der vorbeischnürende Hund gefallen hätte. Wie sehr es mir erst bei Proust so gehen wird.

Im Buch geht es im besonderen darum, möglicherweise ein Proustzitat, dass man nicht nur Dinge beschreiben will, sondern den Moment des Fühlens und Erkennens mit der Beschreibung festhalten. Es anderen ermöglichen will, dasselbe zu fühlen und zu sehen. Und ich fühle mich in dem was ich mit meinen Konzertberichten oder Urlaubserzählungen möchte dieser Beschreibung nahe.

Nun jedenfalls ist das Buch in der Sprache und wie es erzählt sehr gelungen, und ich möchte diesen Schritt zurück, das Sammeln der Quintessenz auch öfter vollführen, doch komme ich ja schon im allgemeinen nicht ausreichend dazu meine Gedanken wild über das Papier wandern zu lassen.

Das verborgene Erbe. Wieso ein Erbe wohl immer als verborgen beschrieben werden muss? Könnte nun natürlich gleich darüber nachsinnen, was mein verborgenes Erbe ist. Gedanken. Die Prägung. Das was man von einem Menschen gelernt und aufgenommen hat?

Es ist lehrreich und interessant wie sich de Waal der ganzen Zeit nähert und versucht sie zu greifen, für sich greifbar zu machen, indem er an die Orte fährt, die Zeitungen aus der Zeit liest, sich die Gebäude und Wege ansieht, an denen seine Vorfahren gewohnt haben. Und wie es ihm gelingt, dass es sich so leicht liest, und seine Mühen nur wie ein zarter Patinahauch erahnbar sind, in ein paar seiner Bemerkungen.

Erste Seite. Zitat der Figur Charles Swann. Darüber dass die Art und Weise wie man an Gegenständen hängt, und warum, meinethalben als Sammler aber nicht zwingend auf das beschränkt, von anderen nie voll und ganz verstanden werden kann. Die Gefühle die man um die Gegenstände erlebt hat, sind »unerreichbar an Wert«, können nach und nach hervorgeholt und betrachtet werden. Die Gefühle. Nicht die Gegenstände.

Kostzitate aus dem Buch
»Manche Objekte scheinen den Pulsschlag ihres Geschaffenwerdens zu behalten. Dieser Pulsschlag beschäftigt mich. … ein eigenartiger Moment.«

«Charles lernt Zeit mit einem Bild zu verbringen … dieses Umwenden und noch einmal hinsehen.«

«Meistens gibt er nicht an damit, wie viel er weiß. Er möchte uns das, was er vor sich hat, deutlicher sehen lehren. Das ist Ehrenwert genug.«

»Es galt, das Gift der Erfahrungssensation gleichsam intravenös einzuspritzen; das heißt der geläufigen Erfahrung den Erlebnischarakter abzumerken. Der Feuilletonist macht sich das zunutze. Er verfremdet dem Großstädter die Stadt.« (Walter Benjamin)

Herzl, einer der ersten dieses Genres, »er sei in Gefahr, ›als Narziß sich in den eigenen Geist zu verlieben und dadurch jeden Maßstab für sich und andere zu verlieren‹«

Über Erinnerungen, und ob man in Vergangenheit graben soll oder nicht. »Nur weil man etwas hat, bedeutet es nicht dass man es weitergeben muss. Etwas zu verlieren kann manchmal Raum schaffen in dem man leben kann.« … »Ich bin die falsche Generation um loszulassen.«

. . . . . . . . . Abend eins . . . . . . . . .

Migräne nah dem Schlaf

Die unbedachte Erwähnung des Wortes Migräne im Zusammenhang der neuesten Migräne-Eis-Forschungen tags zuvor bei einem Spaziergang auf dem bewiesten Scherbelberg scheint einen leichten Anhauch davon herbeigerufen zu haben. So leicht aber, dass man das Leid zwar in einem fort verkünden, aber nicht vollkommen einzig darauf konzentriert damit verbringen kann. Herr Walte berichtet dass auch die Hauptfigur der verlorenen Zeitsuche von sehr labilem gesundheitlichen Naturell ist. In diesem Buch einen Schicksalsgefährten zu finden, der ebenso wie ich aus dem kleinsten Weh etwas Großartiges zu schaffen vermag, ist der letzte Anschubser den es braucht, mit dem Lesen zu beginnen.

»Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen …« liest das Auge den ersten Satz und ich schlafe von stetem Schläfenschmerz erschöpft ein.

Zumindest fühle ich mich kurz davor, doch zu süffig, man müsste schreiben wie ein tiefdunkel leuchtender Rotwein, würde man nicht lichten Weiswein bevorzugen, liest sich der französische Gedankenflug in nachtschwarzen Schlafzimmern, als dass man ihm nicht weiter folgen könnte.

Französisch. Die niedergeschriebenen Gedanken wirken in ihren gewundenen Wegen so durch und durch französisch dass man diese ungezogene Tatsache instinktiv als Einbildung abwehren möchte. Es sind unter anderem die sehr sinnlichen Beschreibungen, das detailliert Ausschweifende, das hin und her Fliegende, wie eine Biene die vor lauter Blüten nicht weiß, welche sie zuerst in so geradem Flug, wie es ihrem Flugapparat der mit dem Körpergewicht und ebenso schwer wiegenden Luftströmungen zu kämpfen hat, möglich ist. Man vermeint beinahe die weit ausholenden Armbewegungen mitverfolgen zu können und hat den französischen Singsang im Ohr, in denen die Erzählung niedergeschrieben wurde.

Gerade im Vergleich der Erinnerung an musilsche und doderersche Schreibart erscheint der Gedanke so ungezwungen wie wahr. Und passt sich natürlich in die unter anderem von Saphir und Whorf geäußerte Vermutung ein, dass die Sprache unmittelbar den Weg der Gedanken beeinflusst (siehe auch die weiterführenden Informationen zu Neal Stephensons Snow Crash, hier). So dass hin und wieder ein Satz vollkommen wesensfremd an das eigene Selbst auftrifft und die konzentrierte Lesetiefe störend aufkräuselt.

»Zärtlich drückte ich meine Wangen an die schönen Wangen des Kissens, die rund und frisch sind wie die Wangen unserer Kindheit.«

Ist dem Französischem ein Hang zur Überpoesie zu Eigen, der nicht leicht sondern eher versessen zu nennen ist? Eine kurze Notiz zur Titelwahl bestärkt diese Vermutung. »Der neue Titel zeugt von Prousts Auseinandersetzung mit Balzac, dem er […] vorwirft, in seinen Titeln einen allzu direkten Bezug zwischen Titel und Romangeschehen herzustellen. Dadurch dass man sie wortwörtlich verstehen muss, verlieren [sie] in Prousts Augen […] ihre ›philosophische Poesie‹«.

Das völlige bewußtseinsferne Sein im Unbekannten beim Aufwachen mitten in der Nacht ist etwas, was mir zuerst nicht bekannt vorkommt, ebensowenig wie das gedankliche Durchprüfen aller bisher mit dem Körper ausgefüllten Schlafzimmer, bis eine Übereinstimmung des Körpers mit der räumlichen Ausdehnung die er ausfüllt, in der er sich befinden kann, erreicht wird, und die anderen »mögliche[n] Gegenwart[en]« ausgeschlossen werden. Ich habe aber das Gefühl, auch, jedes einzelne Zimmer in dem ich jemals geschlafen habe, mehr körperlich bewußt als in meiner Vorstellung visuell verankert, dort teilweise nur verschwommen existierend, in Erinnerung rufen zu können, jedes Zimmer bei Verwandten, Freunden, jede Herberge, jedes Hotel, sogar das ein oder andere Zelt, jede Wohnung und bin verblüfft von dieser Tatsache, auf die die verlorene Zeit ihr Licht geworfen hat. Was ist das für eine Art von Erinnerung, dass sich der Körper jede Schlafstatt so einprägt, aber nie bewußt daran zerrt? Vielleicht wenn mein Schlaf leichter wäre, und meine Gedanken körpermüde doch wachen Geistes öfter in nächtlicher Dunkelheit wären, die das Sujet Zimmer in denen ich schon einmal geschlafen habe nahelegt.

Die mangelnde Dunkelheit ist es nämlich, die mir dieses verlorene Gefühl wenn man nachts doch einmal aufwachen sollte, versagt. Die Zimmer sind immer, oder zumindest schon seit sehr langer Lebenszeit, gut in ihren grauen Umrissen wahrnehmbar. Nicht nur erahnbar. Das magische an der vollkommenen Dunkelheit »die für meine Augen, aber mehr noch für meinen Geist angenehm und erholsam war, dem sie etwas Grundloses, Unbegreifliches, wie etwas wahrhaft Dunkes erschien«, kenne ich somit nicht. Bis auf ein einziges Erleben. Zu Besuch bei Freunden in Stutjardin wurde uns ein Gästezimmer zugeteilt, das sich mittels eines Außenrollladens vollkommen lichtdicht abdunkeln lies. Solange das Leselicht an war, war ich noch ahnungslos an dem, was mir als schockende Erfahrung unmittelbar bevorstand. Das Licht verlosch, und ohne bewußten Gedanken wartete mein Körper die Zeit ab, die immer vergeht bis sich die Augen den neuen Lichtverhältnissen anpassen und wieder sehen. Die Zeit dauerte an. Und an. Es geschah nicht. Es blieb dunkel. Ich hob die Hand vor meine Augen, fühlte den Ort an dem sie sich befindet, doch ich sah sie nicht, sah absolut nichts. Als wäre mein Körper verschwunden, obwohl ich ihn noch fühlen konnte. Aufregend. Belustigend. Unheimlich. Und ich konnte am nächsten Morgen beim Frühstück nicht davon ablassen den Mitspeisenden wieder und wieder zu schildern was für ein ausgesprochen sensationelles Erlebnis sie mir verschafft haben. Manche Themen erschöpfen sich schließlich nur sehr langsam, wenn man sie bis ins Innerste gespürt hat. Zumindest für die eigene Person.

In diese Erinnerung zurückgehend ist es möglich, das Durchspielen der verschiedenen Räume, um denjenigen abzupassen in dem man sich gerade befindet, zu verstehen. Und so scheint schon ein Schlüssel des weiten Halls des proustschen Namens geborgen. Er schreibt über Dinge die jeder kennt, doch meistens nicht auf sie achtet, und ihnen noch weniger nachsinnt.

Ein vorerst letztes Beispiel davon. »Komisch, ich denke sehr oft an meine liebe Frau, aber ich kann nicht lange auf einmal an sie denken.«

. . . . . . . . . Tag zwei . . . . . . . . .

»It is quite possible — overwhelmingly probable, one might guess —
that we will always learn more about human life and human personality
from novels than from scientific psychology.«

(Noam Chomsky, nach Wikipedia)

Auf der Suche nach der Theorie, dass die Möglichkeiten unseres Denkens durch die Sprache in der wir es tun beeinflusst werden, wurde vom Wesen Wiki geführt auch dieses Zitat gefunden.

Man vergleiche hierzu die Wikipediaseiten über Selbstbild, Idealbild und Fremdbild mit der Passage die den Menschen Swann mit dem Bild, dass in der Familie des Erzählers von ihrem Nachbarn Swann existiert vergleicht.

«Doch selbst hinsichtlich der unscheinbarsten Dinge des Lebens sind wir nicht ein objektiv erfaßbares Ganzes, das für alle gleich ist, […] als soziale Person sind wir eine geistige Schöpfung der anderen.«

Spiegelstrich eins. Erzählungen die mich einfangen, scheinen alle als Eigenheit zu haben, dass sie lebendige Philosophie und Psychologie in sich bergen.
Spiegelstrich zwei. Aus dieser Grundbeobachtung läßt sich das Ausmaß der Konträrgefühle Verstanden werden — sich Unverstanden fühlen, im sozialen Umgang vermessen. Es geht um nicht weniger als um das Selbst. Sieht man das Selbst im Spiegel der anderen und weicht es zu sehr vom Selbstbild ab, ist es als ob dieses Selbst nicht existiert. Es wird in Frage gestellt. Es ist wie die Auflösung des Seins! Oder zumindest eine verstörende Erfahrung sich nur verschwommen wiedererkennen zu können. Unvollständig. Die Seele demoliert. Auseinandergezogen im Überlagerungszustand des Selbst und des unselbsten Bildes dass von jedem in der Vorstellung der anderen existiert.

Ein zweites Themenbeispiel dazu. Das Wirken der Gewohnheit. Ihre Macht. Und über den bekannten Alltagspsychologieanflug, dass man einen unausgepackten Umzugskarton nach drei Wochen in der neuen Wohnung nicht mehr wahrnimmt hinaus, ein Ansatz zu ihrer Ergründung.

»bis die Gewohnheit die Farbe der Vorhänge verändert, die Pendeluhr zum Schweigen gebracht, [...]«

»Sie ist eine geschickte, aber sehr langsame Einrichterin, die unseren Geist zunächst einmal wochenlang in einem Provisorium schmachten läßt; doch ist er trotz allem froh, sie vorzufinden, denn ohne die Gewohnheit, nur auf sich selbst gestellt, wäre er außerstande, uns eine Behausung bewohnbar zu machen.«

»Eindringen [...] in ein Zimmer [...], das ich endlich so sehr mit meinem Ich erfüllt hatte, daß ich ihm nicht mehr Aufmerksamkeit schenkte, als eben diesem. Nun aber, da der anästhesierende Einfluß der Gewohnheit aufgehört hatte, begann ich zu denken, zu fühlen [...]«

Der entwicklungsgeschichtliche Zusammenhang bietet sicherlich eine andere, unromantischere Perspektive. Alles was gewohnt ist, birgt keine Gefahr und muss nicht näher beachtet werden. Doch wieviel schöner und reizvoller ist der Gedanke, eines in den Raum greifenden und vereinnahmenden Selbst, dass sich streckt, ausdehnt und eine Integration dessen vornimmt, was kein Eigenleben und keinen Eigensinn hat, und somit das eigene Selbstempfinden nicht stört. Eine Erklärung auch für die Anhänglichkeit die man manchen Gegenständen gegenüber fühlt. Sie sind Teil eines überdehnten Selbst. Das Zurückschnellen wird gefürchtet. Es geht sicher mit lautem Schnalzen und der Möglichkeit von Schmerz einher.

. . . . . . . . . Tag drei . . . . . . . . .

Die Macht des Geschmackssinns & ein Weg der Erinnerung

»wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand, und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt […] eine köstliche Essenz; oder vielmehr: diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst.«

Die Erzählung die sich bislang punktuell auf die sich im Inneren des Hauses befindenden Erinnerungen gerichtet hat, wird in einem raumgreifenden Crescendo auf das ganze Dorf Combray ausgeweitet. Auslöser dieser Ausweitung sind die durch einer Tasse Lindenblütentee, in die sich der Geschmack von Madeleines vermischt, wiedergefundenen Erinnerungen. Dieser Textabschnitt ist in seiner Inszenierung so feingeschliffen und ausgewogen, das einem der Geist offen steht vor Staunen.

An jeder Kante der Erzählung funkelt eine andere Assoziation verführerisch im Halbdunkel auf; das Geschehen des Romans aus Theatersicht, seine Erinnerung, das Haus, Combray als Bühne, das Aufsteigen von Erinnerungen aus so unendlicher Tiefe wie aus den Tiefen des Meeres, das man wohl ahnen möchte, dass da etwas aufsteigt, aber nicht zu erkennen vermag, was es ist, die aus der Physik geliehene Vorstellung, Gerüche haben Anziehungskräfte auf ähnliche Erinnerungsgeruchteilchen, …

»Doch wenn von einer weit zurückliegenden Vergangenheit nichts mehr existiert, […], dann verharren als einzige, zarter, aber dauerhafter, substanzloser, beständiger und treuer der Geruch und der Geschmack, um sich wie Seelen noch lange zu erinnern, um zu warten, zu hoffen, […] das unermeßliche Gebäude der Erinnerung zu tragen.«

Und im Inneren schimmern die Gedanken um das Thema verschüttete Erinnerungen. Wie der Alltag stillsteht und etwas Bedeutsames geschieht, das einem wie eine Offenbarung ist, die Flüchtigkeit dieser Momente, ihre Qualität, ihr Herbeirufen durch einen bestimmten Geruch oder Geschmack, die Macht des Geschmackssinns, der, vielleicht da er uns der am wenigsten Bewußte ist, den wartenden und ebenso unbewußten Erinnerungen am nähsten steht, die süße Qual sie nicht fassen zu können, sie nur zu erahnen, die innere Sensation, das Unerwartete an ihnen, dass sie noch mehr zu einem Geschenk macht, das Persönliche daran, dass für keinen anderen eine dramatische Bedeutung hat, als für uns selbst, die wir ein Stück von uns selbst wiederfinden, die Bemühungen das im dunklen Verborgene zu heben, wie einen Schatz. Und das Ahnen wieviel mehr noch auf dem Grund der Erinnerung verborgen liegt, doch unerreichbar für uns, wenn es der Zufall nicht will. Erlebnisse die im speziellen so persönlich für uns bedeutsam sind, wie auf einer übergeordneten Ebene universal.

Eine Passsage über die man vermutlich ganze Bücher schreiben könnte, und sich in seiner Schwärmerei daher bremsen, und besser stattdessen nochmal den Abschnitt lesen sollte. Und dann vielleicht noch einmal. Bis hin zum schelmischen Schluß, in dem, ausgelöst durch diese eine gehobene Erinnerung, einer Lawine gleich, alle weiteren Erinnerungen um diese Zeit, das ganze Dorf mit all seinen Menschen auftaucht. In einer Überlagerung aller Zeitzustände von morgens bis abends in allen Jahreszeiten. Dass sich das ganze Dorf Combray wie ein wiederauftauchendes Atlantis aus der Tasse Lindenblütentee erhebt.

Das Lesen des Abschnitts ist den Gefühlen die, mit ganzem Bewußtsein gehörte, Musik herbeiruft, welche ebenso Assoziationen oder Gedankenausflüge auszulösen vermag, gleich. Das Heraufrufen eigener Kindheitserinnerungen, in natürlich blasser Farbgebung. Ein Dorf im Altmühltal, ein Bauernhof, Gerüche von dunkelgrünem kühlem und feuchtem Gras das in Futterrinnen verteilt wird, und darüber, im Heuspeicher, in staubiger Lichte wie in einer Kathedrale, ein riesiger Heuberg der die ganze Luft mit in den eindringenden Sonnenstrahlen wirbelnden Staubteilchen sättigt, oder der winzigkleine Dorfplatz, ein schon damals vergilbter knallorangener Kaugummiautomat an einer putzverbröckelten Hausmauer. Es ist eine gedankliche Reise in die eigene Vergangenheit, die einen fremdgewordenen Reiz besitzt. Nichts ist unerreichbarer als sie.

Und durch die Erzählung angelockt fliegt der Geruch herbei, der vor wenigen Jahren an einem Sommer an der Algarve das gleiche glückliche Ringen ausgelöst hat, und seither alles zu umfassen vermag, was das kleine Kind in mir erlebt hat. Der Geruch von frisch gekochter Erdbeermarmelade. Als wäre in ihm der Sommer des Lebens auf ewig konserviert.

. . . . . . . . . Tag vier . . . . . . . . .

Der neurasthenische Junge umarmt in einer letzten Verzweiflungstat seinen geliebten Weißdornbusch bevor er abreisen muss. Eine derart erschütterte Liebe zu einem Pflanzenwesen ist etwas, das selbst ich bisher nicht aus dem eigenen Leben kenne, und so bleibe ich in meiner bisherigen Identifikationsneigung etwas ratlos hinter dem Jungen zurück, und grüble über diesen Wesensmangel nach. Beschließe auf den Scherbelberg zu gehen und einen Busch oder Baum zu suchen, der meine Gefühle weckt und in den ich mich verlieben kann. Ein Baum scheint mir umarmungstechnisch dafür allerdings geeigneter als ein Busch.

Wohl habe ich auf einer Zugreise die nach Süden durchs Land ging und den Blick über unzählige Büsche gleiten ließ, darüber nachgedacht wie es wäre, eines der dichtverzweigten Blätterwesen zu durchqueren, und blieb auch ein wenig über dem Bild hängen nach durchführter und zerzauster wie zerkratzter Tat auf der anderen Buschseite herauszukommen, und den Menschen, auf die ich dort unweigerlich treffen würde, zu erklären, dass ich üben möchte durch Gegenstände zu gehen, und ein Busch mir aufgrund seiner recht zwischenraumintensiven Konstruktion für den Anfang am geeignetsten schien. Genaugenommen habe ich seit diesem Gedanken eine solche Sehnsucht nach dem Erleben dieses Buschverschmelzungsgefühls, mit all seinem klebrigen, stechenden, und juckenden, sicherlich unangenehmen Nebenerscheinungen, dass ich nicht umhin kommen werde es eines Tages auszuprobieren.

Noch reizvoller wäre es natürlich ich würde begeisterte Nachahmer finden, und könnte eine fanatische Natursekte gründen. Es fehlte mir nun nur noch der passende Name. Nach einigen Jahrhunderten, in denen die Anhänger ihr Leben im zunehmenden Maße immer mehr in den Büschen verbracht haben, setzt schließlich die Evolution in einer Kurzschlußhandlung das erste Buschmenschwesen in die Welt. Eine Sippe die sich immer weiter ausbreiten und den Menschen immer unheimlicher werden wird. Mit den Trollen, die dies schon vor Äonen durchgemacht haben, verstehen sich die Buschmenschwesen hingegen wunderbar.

. . . . . . . . . Tag fünf . . . . . . . . .

Wie eine Klammer geht die durchdachte Nacht, in der er sich — wie in vielen anderen — an seine combraysche Kindheit erinnert hat zu, und mit einem atemlosen Blinseln wird dem Leser klar, dass dieser ganze erste Teil in eine einzige Nacht voller Gedanken gepaßt hat.

Und natürlich liegt er im falschen Zimmer. Was zur erfreuenden Vorstellung führt, wie die in seinem Geist falsch angeordneten Gegenstände, Schrank, Tisch, Spiegel, beim Einsetzen des Tageslichts geschwind an ihren eigentlichen Platz wetzen.

. . . . . . . . . Tag sechs . . . . . . . . .

Über die Landschaft um Combray, die Liebe Swanns, die Beschreibungen von Musik, bis hin zum kleinen Jungen und seinen Ausführungen über die Namen ferner Städte, und was sie durch die mit ihnen verbundenen Assoziationen in ihm auslösen und zu seiner ersten Liebe, schwebt eine Aussage wie eine bei allem zu gegen seiende Präsenz.

Erst unsere Phantasie gibt all dem was uns umgibt Bedeutung.

So träumte der kleine Junge der Landschaft in seiner Kindheit all sein Wissen über deren mittelalterliche Vergangenheit ein, und zieht später aus den zahllosen Spaziergängen die er in ihr verbracht hat, und den Betrachtungen über ihre in der Sonne glänzenden Einzelheiten, die Erkenntnis, dass sie »mit vielen kleinen Ereignissen desjenigen der vielen verschiedenen Leben, die wir nebeneinander führen, verknüpft ist, das die meisten Peripetien mit sich bringt und am episodenreichsten ist, nämlich des geistigen Lebens«. Die Liebe zu Odette setzt sich in Swann erst fest, als sie ihn, wie es ihm bei so vielen Menschen aus seinem Umfeld geschieht, an ein Gemälde erinnert, er in ihr Sephora, die Tochter des Jithro, in einem biblischen Gemälde von Botticelli erkennt, ihre Züge und ihre gesamte Erscheinung somit gleichsam geadelt werden, und er mehr noch aus der Entdeckung dieser Ähnlichkeit, die er fortan immer mitführen kann, Freude empfindet.

»ein Freskenfragment bot sich in ihrem Antlitz und ihrem Körper dar, das er von da an immer darin wiederzuerkennen suchte, wenn er bei Odette war […] und obwohl er auf das florentinische Meisterwerk zweifellos nur solchen Wert legte, weil er es in ihr wiederfand, so übertrug doch diese Ähnlichkeit auch auf sie eine besondere Schönheit.«

Es scheint sehr amüsant zu sein, das Bild der Menschen die einem im Leben umgeben mit dem eines bedeutenden Gemäldes zu verknüpfen um ihnen gleichsam noch ein Mehr an Bedeutung anzuheften. Das will ich auch, und begebe mich in die Wissenskiste um sofort nach geeignetem Material zu suchen. Eingegeben von der verlorenen Zeit begebe ich mich als erstes zur Sixtinischen Kapelle, muss aber schnell betrübt einsehen, das man auf die Schnelle keine zufriedenstellenden Ähnlichkeiten findet. Oder es ist mein mangelndes Vorstellungsvermögen, das die Wesenszüge der in den Gemälden dargestellten Menschen einfach nicht von den Togen freibekommt.