Zoo und Chuck Ragan | 13.09.09 | Conne Island

Konzert 20.05.08 im Conne Island

Der Tag des diesjährigen Chuck Ragan-Konzertes beginnt um 6:40 Uhr nicht durch das Klingeln des Weckers sondern das der Tür. Im automatischen Modus betätige ich den Türsummer um dem erwarteten brüderlichen Besuch Einlaß zu gewähren und bereite ihm wie gefordert ein Pfannkuchenfrühstück.

Dafür erklärt er sich bereit mit mir meine Zoojahreskarte auszunutzen und sich mit mir über variierende Fischformen und -Mimiken, sich häutende Schlangen, das Vogelhaus mit BulBul-Vögeln und außerhalb ruhenden Mandarinenten zu begeistern.

Zoohighlight des Tages. Die Seebären werden mittags aktiv und lassen sich an der Unterwasserscheibe beim Durchswassergleiten und dabei durch die eigenen funkelnden Luftblässchen Durchwirbeln bestaunen. Eines hat ein Steinchen im Mund mit, das es an der Scheibe immer wieder fallen läßt um es dann wieder vom Boden aufzuheben. Ein anderes versucht sich durch Eigenartigkeit hervorzuheben und bewegt sich beständig knapp unter der Oberfläche, lediglich die eine Flosse immer über Wasser haltend, so dass sie nach mehreren Minuten schon von der Sonne getrocknet ist.

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Doch trotz solch belebenderfreuender Erlebnisse zieht gegen Abend die Müdigkeit immer mehr spürbar zu. Soll sie wohlig doch bestehend bleiben, so ist das fein. Nur umkippen darf sie nicht. Denn ein 3-Band-Konzert will durchgestanden werden.

Begebe mich mit Herrn Walte auf den langen Weg gen Süden, mit Straßenbahnwechsel am Bahnhof. Am Steig unweit von uns stehend bemerke ich einen Menschen, der nicht so sehr durch seine enorme Körpererscheinung und -Größe auffällt, obwohl diese unüberbemerkbar ist. Ocker-, beige- und erdfarbene Kleidung, blockige Schuhe die die Erde auf der sie stehen erschüttern könnten und wirr vom blonden Kopf in einem Viertelglatzenhaarkranz abstehendes mittellanges Haar. Sondern vielmehr durch den unruhig am Bahngleis auf- und abschwirrenden Blick. Die Nervosität eines Menschen ausstrahlend, der einen lang gehegten Plan in sich trägt der an diesem Abend zur Ausführung gelangen soll.

Im Conne Island werden fünf Minuten der stundenlangen Wartezeit durch das Besehen der Musikscheiben auf dem Verkaufstisch zugebracht. Das Digger Barnes-Cover begeistert durch die gemäldehaftigkeit in der Darstellung seiner selbst im Vordergrund mit einem Tablett in den Händen. Im Hintergrund eine weite landstraßendurchzogene Landschaft. Ein Bild das unwillkürlich an das Farmerleben aus American Gothik* erinnert, auch wenn weder Gesichtsstrenge noch Zeichnung an sich wirklich mit diesem Bild übereinstimmen. Kurzes Sinnieren darüber, dass man — obwohl schon festen Vorsatzes auf dem Konzert Alben zu erwerben — dies nie vor dem Konzert tue und woran dies liege. Es wirkt einfach in den Abläufen nicht richtig. Und ja, man weiß ja schließlich meist vorher nicht, ob das zu Erwerbszwecken bereitgehaltene Geld nicht auch auf die ein oder andere Vorband verteilt werden will.

Fake Problems. Franzferdeske Tanzrhythmik hinterlegt chemisch-romantischen Schreigesang à la Gerard Way. Ein Zusammensatz aus vielen einzelnen gekonnten Elementen, großartigen und abgehakten Trommel- und Gitarreneinschüben. Wild herumspringende Bandmitglieder die es absolut ernst meinen, und durch das Kombinieren dieser von mir zuvor noch nie kombiniert gehörter Versatzstücke aus verschiedenen Musikrichtungen etwas durch und durch Eigenes haben, nicht ohne Faszination.

Und doch wird es irgendwie nicht rund, bleibt abgetrennt ein jedes Element für sich großartig, doch nicht in ein neues Material sich fügig zusammenbindend. So als würde man zig verschiedene Lieder nicht übereinanderliegend, sondern in millikurzen Ausschnitten hintereinanderhören, so dass ein akustisches Flirren entsteht. Es geht nicht zusammen. Doch vielleicht ist das auch gerade gut und reizvoll. Oder vielleicht ist es aber auch die ohne Zweifel gewaltig kräftige Stimme des Sängers, die zu viel für die Tanzbeats im Hintergrund scheint, vielleicht kontrollierter werden müsste, um dazuzuklingen und nicht dagegen.

Denn nach diesen ersten gebanntverstörenden Liedern driften die Stücke für ein, zwei Singalong-Lieder ins Dumpfe, Eintönige und Belanglose ab. Lieder zum Mitgrölen für ein Stadion, doch ganz ohne irgendein fesselndes Etwas. Und genau das will man ja noch viel weniger. Freude also, dass für das letzte Lied nochmal die ohne Zweifel vorhandene Kunst ausgepackt wird, und wieder gefangennimmt und das Zuhören spannend wenn auch nicht einfach macht.

Der Weg sollte also wünschenswerterweise weiter durch dieses momentan beinah schmerzhaft zerklüftete Tal gehen. Meinethalben für den Zuhörer barfuß, und beständig in der Angst jeden Moment von einer Schlange oder Echse angegriffen zu werden, während jede schnelle Bewegung einem die Fußssohlen aufschlitzen würde. Nur um zu sehen, was für diese Band noch dahinter liegt, ob sie dort etwas Neues entdeckt oder bereits entdeckt hat.

Und in dieses unentschlossene Gefühl mischt sich die Verkostung einer bisher unbekannten Ciders-Sorte. Coopers. Schmeckt nicht unbedingt nur nach den Früchten sondern nach dem Apfelbaum als Gesamtkonzept. Mit Rinde und Blatt und allem, was begleiterseits in dem Alex-Ausspruch mündet: »mir gehts mit dem Cider so wie mit der Band.«

Hörlustweckung: My Chemical Romance, BulBul.
Anspieltip (und das Lied ist wirklich sehr fein): Diamond Rings
Vielleicht eher nicht hören: American Dream

Nachtrag. Blick auf Myspace-Seite offenbart wieder die Richtungsangabe Showtunes. Mit der hab ichs selten leicht. Bei BulBul stehts auch drauf.

Digger Barnes bespielt die Bühne und »die Gitarre klingt schön« ist der Gedanke der sich gleich zu Anfang aufschwingt und in seiner Einfachheit nun über ihr schweben bleiben wird, harmonisch verbandelt mit weichrauhem Gesang. Hier zuzuhören ist so wohltuend zeit- und bedenkenlos, wie das auf und ab einer umbriesten Schaukel, die inmitten eines goldleuchtenden Weizenfelds auf Rügen steht, in Sicht- und Windnähe des Meeres. Doch eigentlich ein ganz anderes Land, ein anderes Leben. Doch keines ohne Spannung.

Denn er beherrscht sie alle, die Lieder die in dieses Land gehören. Und so kann ein Banjo mit lang gefühlten Pausen durchzupft eine Spannung erzeugen, die weder an noch abschwillt, sondern konstant auf einem langen hochliegenden Flug gehalten wird. Einem den Atem beschwerlich macht. Während der Gesang, nur mit Kraft zurückgehalten, durch eine Geschichte voranpreschen und galoppieren will — mit dem nur Halbwortlaut »Hrum« der hinter das »Run« gesetzt wird angetrieben — und einen in den fern zurückliegenden Westen mitnimmt, in irgendein Gefilde das die Ursehnsucht in uns mißt.

Chuck Ragan und Jon Gaunt. Und nachdem man sich nun soweit vom tatsächlichen Veranstaltungsort wegbegeben hat, betreten sie die Bühne. Der Zimmermann, seine Band, und unter ihnen der Geiger der hüpfend und wildumspringend und bald wieder mit Beseelung verschmitzt durchstrahlt, bald klassisch beherrscht sein und unser aller Leben fidelt.

Digger Barnes kundete an, sie würden die Bühne in Schutt und Asche legen. Und irgendwie ist daran etwas durchweg Wahres. Doch noch viel mehr haben sie alles um die Bühne herum verwandelt. Mit Gesang und Musik und Gefidel, die so mächtig und gewaltig sind, dass im einen Lied der Betonboden unter einem fühlbar kurz davor steht sich in das Parkett eines Salons zu verwandeln. Seiner selbst nicht mehr sicher. So mächtig dass die Realität schwach und immer dünner wird, und alles Stoffliche nicht mehr von sich überzeugt beharren kann. Und in der Ballade Geraldine umwebt der nach oben schwebende Gesang den schwarzen Konzertfilzbehang der Wände und das Eisengestänge, das Audio- und Lichttechnik hält, so zersetzend, das alles Stein und Kathedrale wird.

Und nach vielen weiteren flitzenden Fidel- und Gitarrenschrammliedern, die einen so jung und wiederbelebt gestärkt fühlen lassen, als wäre man der Lucky Luke-typische alte Farmeroper im Rollstuhl, der seine Farm mit Gewehr verteidigen muss oder vor den ein Stück Blaubeerkuchen gestellt wird, gibt die letzte Ballade vor dem letzten Lied vor der Zugabe einem kurz die Gelegenheit im Stehen geruhsam wegzuschlummern — bevor das erste der letzten Lieder einen das Leben wieder in die Beine und den Geist sägt. California Burritos.

Und dann immer weiter ein Lied der Feier und der Auslassung allen Ballasts nach dem anderen. Und in diesem Tummelkessel des Lebens der da im Conne Island brodelt, erscheint mit einmal der Riese, der einen Plan gehegt hat.

Auf der rechten Bühnenseite um drei Kopflängen über Chuck Ragan aufragend faltet er die Arme bühnenumspannend und beherrschend aus. Die Musik geht weiter, doch man vermeint ein kurzes Haken der Weltdrehung verspürt zu haben, ein Aussetzen der Weltatmung. Der Anblick ist wie eine perspektivische Verzerrung die die Bühne mit einem Mal 100 Meter tief werden läßt. Vorne steht der Riese, und ganz hinten spielt Chuck Ragan mit Band.

Und dann läßt sich der Riese in die vor Verblüffung nicht dem Instinkt folgende und auseinanderstiebende Menge fallen und wird auf den Handwellen in seiner Ehrerbietung und Freude vor Chuck Ragan vorbeigetragen, und nach einer Runde beinah wieder auf der Bühne abgesetzt, die dieser natürlich auch so mit Leichtigkeit nochmal erklimmen kann, um vom vor Erstaunen schallend und glücklich lachenden Chuck Ragan umarmt zu werden.

* Erlese in der Wikipedia gerade, dass dieses Bild auch in der Rocky Horror Picture Show »zitiert« wurde. Und ja. Nie bemerkt doch nun wo ich es lese steht das Bild verschwommen und an den Rändern in den Details ausbleichend vor meinen Augen. Der alte Diener und Magenta (?).

Genauer: »Direkt nach der Hochzeit sieht man in einer kurzen Einstellung ein bäuerliches Ehepaar (die Kirchendiener) mit einer Mistgabel vor der Kirchentür. Diese Szene ist eine Anspielung auf das Gemälde American Gothic von Grant Wood. Das Paar wird gespielt von Richard O’Brien und von Patricia Quinn, welche später als Riff Raff und Magenta im transsilvanischen Schloss auftauchen werden. In einer späteren Szene im Schloss sind beide auch auf einem Gemälde im Stile des American Gothic zu sehen.«

2 Kommentare
  1. Alex · September 14, 2009 @ 22:20

    … wobei mein Ausspruch mehr auf dem schwer zu definierenden säuerlichen Beigeschmack gründete, der sowohl Federweißer-Nachgeschmack als auch der Geschmack einer “auf der Zunge zergehenden Fledermaus-Plazenta” (aus Micha Ebelings “Restekuscheln”) hätte sein können. Die Band fand ich dann ehrlicherweise doch besser als das. Hast Du übrigens auch die bekerzte leuchtende Geburtstagstorte gesehen und das Chuck Ragan Geburtstagsständchen gehört?

  2. admini · September 14, 2009 @ 23:00

    Ich wollte den Spruch eher so verstehen, dass Du dich auf die Unwägbarkeit und die Schwierigkeit der Meinungsfindung gegenüber vollkommen neu und unbekanntem beziehst, bei dem man einfach noch nicht weiß wie mans finden soll.

    Aber doch, was Coopers betrifft habe auch ich diese Phase hinter mir gelassen. Ich weiß nun genau wie ichs finde. ;-)

    Ach, da war eine Geburtstagstorte? Ich dachte dass wäre ein Höllenfeuerkranz gewesen, der sich auf der Bühne spontan selbst am Fidelspiel entzündete …

    … was mich nicht hinderte vor Mitfreude für den geburtstagsbeständelten zu verblassen. :-D