espanische Erlebnisse | I

zu Besuch bei Whity und Miss Pili in Santiago, 26. Juli bis 3. August

Einen Monat später erinnere ich mich nur noch an den Wind. Nah am Atlantik ist es nicht der sanfte mittelländische Wind der einen freundlich umspielt, mal anstupst. Der Wind dort hat ein anderes Temperament. Ist meilenweit frei und ungehindert über den Atlantik getobt, und es gibt einen Grund, dass er nicht im Landesinneren lebt. Es spiegelt seinen Charakter. Er ist rauh. Er ist alt. Er ist es gewöhnt allein zu sein. Wer sind wir, da zu sein, wo er ist? Zornig rempelt er uns an, will uns einfach nur weg haben. Weg von seinen Klippen, seinen Felsen, und seinen Aussichtspunkten.

Vigo – Parken im Irrsinn und Wandeln im Reich der Möwen

Der Mautweg von Santiago nach Porto überspannt an einer unwirklichen Stelle in einem gewaltigen Brückenschlag eine Ria und gibt den Blick weit auf eine mythische Aussicht frei. Aus der Ria greifen Nebelschwaden nach den Häusern einer Stadt die sich in allen Himmelsrichtungen die umgebenden Hänge hinaufzieht bis sie sich im Dunst verliert. Dazwischen wabert Sonnenlicht. Die Stadt scheint der romantischen Sehnsucht eines Computerspieldesigners entsprungen, die nächste Stadt, in der sein Rollenspielheld gegen das Schicksal ankämpfen kann.

Bei dieser Stadt handelt es sich um Vigo. Unser für die gesamte Reise engagierter Guide Martín versäumt nicht auf die rechteckigen Muschelfarmen hinzuweisen die systematisch angeordnet als künstliche Inseln in der Ria schwimmen. Vigo, die Stadt in der wir auf dem Rückweg Halt machen und eine Fährfahrt zu den paradiesischen Islas de Ciés wagen werden, die jenseits dieses Nebels als Belohnung ausgelobt sind.

2 Tage später. Unsere Fahrt nach Vigo beginnt zeitumstellungsbedingt früh, und trotzdem kommen wir mehr als knapp im strategisch günstig gelegenen Parkhaus an der Fährstelle an. Es sind Bedingungen die einen leicht in Ungeduld versetzen und schon stehen wir vor der Parkhausschranke als dritter Wagen und Wagen eins bewegt sich nicht hindurch. Was macht der Fahrer da?

Wartende Minuten vergehen. Wie oft auf dem iberischen Festland wird auch hier einer technischen an sich automatisch funktionierenden Einrichtung menschliches Personal beigegeben das in anderen Ländern wegrationalisiert wurde. Eine schöne Tradition eigentlich, menschliche Beigaben um der Technisierung diesen kalten unpersönlichen Beigeschmack zu nehmen. Die menschliche Begleiterscheinung der automatischen Parkhausschranke im Parkhaus zu Vigo nähert sich nun dem ersten Wagen, vollführt einen geheimen Zauber, die Schranke öffnet sich und Wagen eins wird hindurchgelassen.

An der Schranke nebenan hält ein weiterer Wagen deren Insassen fröhlich vom Parkhausbegleiter begrüßt werden. Neben ihm passiert Wagen zwei unsere S-s_chranke. Miss Pili fährt heran, reckt sich und drückt den Knopf der erfahrungsgemäß das unverzügliche Öffnen eines jeden Parkhausportals auslöst. Auf dem Automaten erscheinen Informationen im mir nur in Ansätzen verständlichen iberischen Idiom. Nichts geschieht. Doch auch unsere Sprachheimischen scheinen ratlos.

Miss Pilli reckt sich weiter und drückt fester, es geschieht immer noch nichts. Zeit vergeht, der Wagen neben uns ist verschwunden, der Parkhausbegleiter beachtet uns nicht. Im Wärterhaus nebenan sitzen zwei weitere Begleitmenschen die das automatische Geschehen im Griff haben. Uns dämmert, dass es nicht Bedienungsunfähigkeit des Fahrers des ersten Wagens war, die das Fortschreiten der Geschehnisse behinderte. Vielleicht ist das Parkhaus voll, und es werden erst neue Wagen eingelassen, wenn wieder einer weg ist? Wie grauenhaft sinnlos wäre das, wir säßen hier fest.

Die Anzeige ändert sich, Miss Pili drückt erneut den Knopf und eine Frauenstimme vom Band gibt uns blechern Anweisungen, die wohl darauf hinauslaufen, dass wir uns zu Parkbucht 3 zu begeben haben. Wir steuern hin, und der um die Ecke biegende Blick nimmt 4 waschstraßenartige Räume auf, in deren Dritten wir hineinfahren müssen. Das wird von einem der Automatisierungsbeistände streng überwacht. Der Wagen kommt auf einer eingelassenen Metallplattform zu stehen und wir werden von der Automatenstimme aufgefordert das Auto unverzüglich zu verlassen. Es sind 2 Sätze und sie wiederholen sich endlos. Sie schlägt mit der Stimme nach unseren Bürgersubroutinen und betont ohn Unterlaß, dass wir das Auto nun zu verlassen haben. Gestresst und verwirrt greifen wir hastig nach den Dingen die wir mit auf die Insel übersetzen wollen, lassen das Auto übertölpelt in der Waschstraße zurück – vielleicht wird es ja während unserer Abwesenheit gereinigt? — und sind gewappnet dafür, dass es gleich auf der Plattform in den Untergrund gleiten wird, wie bei einem Lift. Und von dort in irgendein fernes Land verschifft …

Außerhalb des Parkslots gibt es einen weiteren Kontrollpunkt der es der Parkhaus-KI ermöglicht mit uns zu kommunizieren. Wir stellen uns höflich aufgereiht davor und erwarten weitere Instruktionen. Miss Pili studiert diese, ein Automatisierungsbeistand eilt herbei und nickt beifällig, Miss Pili drückt den ultimativen Knopf während das Sprachband etwa die 25igste Runde dreht. Meine Erinnerungen senken sich in den Zeitreisenden-Film Millennium. Gegen Ende des Films werden die aus der Vergangenheit aus abstürzenden Flugzeugen geretteten Menschen wieder aufgeweckt. Die Gegenwart droht in einem Zeitbeben einzustürzen. Die Menschen aus der Vergangenheit, gerade aufgewacht, benommen, beunruhigt und irritiert, werden von einer automatischen Stimme dazu aufgefordert sich an einer zentralen Stelle einzufinden. Es wird ihnen nichts passieren. Sie werden in einer entfernten Zukunft in Sicherheit gebracht. Bitte gehen Sie weiter. Bleiben Sie ruhig. Sie werden in Sicherheit gebracht. Denken Sie nicht nach!

Wir wissen, dass alles seine Richtigkeit haben wird, ja muss, wenden uns resolut um, und trotten doch irgendwie schweren und bedrückten Herzens Richtung Ausgang, das Auto im Ungewissen doch irgendwie gut aufbewahrt zurücklassend. Hinter uns ertönt ein gewaltiges Rumpeln, erschrockenen Lautes eilen wir zurück und sehen gerade noch wie sich die Plattform erhoben hat und höchst unsacht seitwarts rattert, als wäre der Wagen auf ihr kurz vor der Verschrottung und es käme nicht mehr darauf an. Dann entschwindet er unserem Blick, nach Afrika bildet sich die allgemeine Meinung heraus. Ich trauere meiner im Auto verstauten externen Festplatte, Behältnis all meiner Erinnerungen, hinterher, doch verkrafte es tapfer. Auch Miss Pili trägt den Verlust ihres Wagens vorbildlich.

Ein Fahrstuhl setzt uns mit weiteren stimmlichen Anweisungen zu und entläßt uns endlich wieder in die momentan noch von der Zukunft unversehrte Normalwelt. Wir sind still. Laufen, noch ganz von dem Geschehen dessen Zeuge wir gerade wurden eingenommen. Verstört. Erst nach und nach, uns vorsichtig herantastend, können wir über das soeben Erlebte sprechen und uns austauschen. Ein erster, der wichtigste, Schritt die schreiende Sinnlosigkeit zu verarbeiten ist zögernd gemacht! Personal-, Technik- und Aufwand an laufenden Kosten. Die Wartezeiten und der Umstand für die Besucher. Was wenn man nur mal kurz etwas vergessen hat und es aus dem Auto holen möchte? Der Vorteil kann mit Mühe aufgedeckt werden. Platzersparnis. Sicherheit. Doch um welchen Preis?

Auf dem Pier scheint etwas Sonne. Whity präpariert seine Haut mit der fünften Schicht Sonnencreme. Kurz später entdeckt er mit unverholener Freude, dass es sich bei der Fähre um einen Katamaran handelt und delektiert uns mit seinen erhebenden Erinnerungen an seine letzte derartige Fahrt. Darüber können wir endlich die Gedanken an das Parkhaus verdrängen. Während der Fährfahrt rankt sich wieder Nebel um Vigo, hinter dem die Erhebungen der Küstenlinie bläulich ins Reich des Erahnbaren überwechseln, und an Seefahrer die nach Monaten zum ersten Mal wieder Land erspähen denken lassen. Vergilbter Abenteuerhauch.

Die Islas de Ciés können in ihren unteren Ausläufen nicht anders als reizvoll bezeichnet werden. In einer weichen Kurve schmiegt sich ein halbwegs doch friedlich überlaufener felsbestandener Strand die Insel entlang, weißer Sand, besäumt von hellen Gräsern. Dahinter wipfelt sich ein freundlicher Wald kleine Hügelchen hinauf. Durch diesen Wald führt ein zugelassener und rollkoffertauglicher Weg — er ist mit Kiefernadeln und anderem duftintensivem Waldkrimskrams bestreut — am Campingplatz vorbei, und zu verschiedenen Aussichtspunkten in Schlängelpfaden hinauf. Alles nicht überwältigend schön. Freundlich schön.

Der Nebel aus Vigo ist nur noch eine ferne Erinnerung. Die Sonne scheint mild auf alles herab. Uns zieht es nach oben, auf irgendeinen Gipfel. Wir folgen dem Waldpfad, der von wie Ameisen hin- und her-weilenden Menschen bewuselt wird. Diejenigen männlichen Waldgänger die ihren Bauch weit vor sich hertragen, gehen gerne ab der Hüfte aufwärts naturbelassen, so sehr gehen sie in diesem zurechtgemachten Naturparadies auf.

Doch je weiter der Weg ansteigt und die Vegetation niedriger wird, nimmt der Wind und der klamme Nebel zu, und die harmlos lockende Insel entpuppt sich als das gnadenlose Reich der Möwen. Sie lassen sich von den zermürbend ungemütlichen Winden in die Höhe heben und folgen den hungernden Rufen ihrer an den Klippen herumlungernden Nachkommen. Hypnotisch beruhigend wie das Meer ists ihrem Schweben, in den Wind Fallen lassen und wieder Aufsteigen mit den Augen und dem Selbst zu folgen.

Die Möwen scheinen hier ganz anders als in menschlicher Umgebung, Stadt oder Seebad. Ruhiger. Sicherer. Bestimmter. Nicht so herumtreibend, sich ziellos langweilend und durchtrieben. Es ist ein Ort an dem sie Familie sind. Farben verlieren sich, es bleibt das Grau der Felsen und das Ocker der hartgesottenen Vegetation die es schafft dem Naturmüll der Möwen zu trotzen.

Das Bild der Insel hat sich in einen dieser kargen Felshaufen verwandelt, die in National Geographic-Reportagen über Vogelkolonien knapp vor dem Südpol zu sehen sind. Harsch. Lebensfeindlich. Wir Eindringlinge die es bis hierher getrieben hat werden nicht offen vom Federvieh angegriffen, nur feindselig ignoriert. Sie wissen, es ist gar nicht notwendig uns zu verjagen. Dieses Werk können sie den zermürbenden Elementen überlassen, dem sich an die Haut klebenden Nebel und dem pfeifenden, rüde schubsenden Wind …

Zerzaust, unterkühlt, vollkommen übermüdet und nicht mehr weit von Krankheit entfernt steigen wir wieder von dort herab, ein Schicksal hinter uns gebracht, und hangeln uns mit letzter Kraft einen kurzen Felsenstreifen entlang an den rettenden Strand.

Die Sonne ist während unseres Ausflugs verschwunden, wir ziehen den Nebel hinter uns her wie die apokalyptischen Reiter ihre Umhänge, es ist kalt und wird kälter. Wir kauern uns an Felsen gelehnt und in Handtücher gewickelt zusammen um wie geplant paradiesisch zu entspannen. Die Möwen senden uns spöttisch ihre Rufe hinterher. Nach 2 Stunden können wir den Strand, dessen Oberfläche von hüpfenden Sandflöhen flimmert, endlich verlassen, die Fähre holt uns ab.

Wieder im Parkhaus. Uns wird nach Einreichen des Parkscheinschnipsels Slot 9/10 als Autoausgabe angewiesen. Wir gehen unseren Weg und in meinem inneren Auge sehe ich wie sich direkt unter uns auch die Plattform mit dem Auto direkt unter uns auf seinen Weg macht, anderen Plattformen ausweicht, geschmeidig surrend und geschwind … wohl Wunschdenken. Wir sind noch viele Minuten vom Wiedersehen mit Miss Pilis armen Auto entfernt.

Vor unserem Ausgabeslot wartet bereits eine kleinere Menschentraube, die meisten resigniert und bis auf das Andeuten von fassungslosem Kopfschütteln unbewegt, hängende Schultern, wie man es von Menschen kennt die schon lange warten, Spannkraft, Rückgrat und Form verlieren. Doch hinter dieser Fasade schimmert Heiterkeit die der herausragenden Absurdität der Situation Achtung zollt. Ja, hier waren Meister am Werk. Was für ein Stück. Die Situation besitzt diese Brillianz die, ohne dass verbaler Austausch stattfinden muss, eine beinahe telepathisch gefühlte Verbindung zwischen den zufällig Beteiligten schafft. Das Gefühl zusammen an etwas teilzuhaben, dass nicht alltäglich ist. Wir schauen auf einen Monitor. Dort werden diverse Kennzeichen mit dem Vermerk »en preparacíon« versehen eingeblendet.

Immer mal wieder blickt jemand in ein kleines und sehr dunkles Plexiglasfenster. Steht man ganz nah dran kann man von dort bis hinunter in den unausprechlichen Schlund des Parkhauses sehen, und erahnt ein mehrstöckiges Plattformgrid auf dem die Autos mühsam ausgetauscht und angefahren werden müssen wie bei einem dieser quadratischen Puzzleschiebspiele meiner Kindheit, bei denen ein Slot zum Tauschen der beweglichen Teile freigelassen wurde. Nach mehreren Stunden ist das Auto bestimmt am hinterletzten Ende und muss erst mühsam vorjongliert werden. Durch die damit einhergehende metallqietschende und rumpelnde Geräuschkulisse und den im dunklen erahnbaren Schiebe-und Austauschbewegungen ist aber eine Erinnerung noch drängender. Das Grauen aus dem Film Cube …

Und wir stehen im Parkhaus, warten duldsam, gezwungen geduldig, warten einfach nur noch darauf, dass es vorbei geht und wir aus diesem absurden Hier, das wir nicht ändern können, entlassen werden. Die Gelassenheit mit der das geschieht weist eklatant darauf hin, dass wir es gewohnt sind in solchen Situationen auszuharren. Warten darauf, dass die Umstände unser Leben, das sie an einem dunklen, uns nicht zugänglichem Ort zu unserem Besten in sicherer und platzsparender Verwahrung haben, wieder freigeben und wir fortfahren können.

4 Kommentare
  1. guide martín · September 6, 2011 @ 23:38

    “…für die gesamte Reise engagierter Guide Martín versäumt nicht auf die rechteckigen Algenfarmen hinzuweisen…” nein nein nein! Das sind Muschelfarmen. Dann hört halt wenigstens richtig hin, wenn ich wissenswertes absondere. Naja, mal wieder Perlen von die Säue geworfen ;-)

  2. admini · September 8, 2011 @ 19:30

    Nein, den Schuh der Unaufmerksamkeit zieh ich mir nicht an. Ich bin Vegetarierin. Das ist ein unterbewusster Verdrängungsmechanismus der Realität. Was sollte ich denn mit Muschelfarmen anfangen?

    Denke aber doch dass ich das wesentliche gut transportiert habe: die 1a Reiseleitung :-D

  3. guide martín · September 10, 2011 @ 02:26

    hurra, das ist mein Einstieg in die Tourismusbranche! Allerdings geben mir diese vegetarischen Schutzmechanismen doch arg zu denken.

  4. admini · September 10, 2011 @ 17:22

    hehe, sind nur dieselben Verdrängungsmechanismen die ihr habt, nur andersrum :-P

    Einstieg in die Tourismusbranche klingt gut. Ich werde Alex noch darauf anspitzen ein derartiges Projekt: http://www.michelbergerhotel.com/#/de/hotel in Leipzig anzufangen. Da läßt sich doch bestimmt eine Partnerschaft finden …

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