Two Inch Astronaut ::: La Dispute | 1.06.15 | Conne Island

I want to write it all down so I can always remember.
(la dispute, king park)

Gießender Regen. Ausgezeichnetes Wetter um zu einem Konzert zu pilgern!

Und so hole ich Kollegen A. im Institut ab, jegliche Schlafdefizite werden negiert, bzw. sollen durch kühle Getränke ausgeglichen werden. Nicht bedacht, aber nicht minder bedeutend für die wachaufmerksame audielle Rezeption werden natürlich die Variablen 01 Lautstärke und 02 Seniorenstehplätze sein.

Der Hof zwischen Café und Konzertraum ist voll plaudernd wartender Menschen, der Regen hat leider nachgelassen doch Luftfeuchtigkeit und -temperatur sind noch durchaus angenehm zu nennen. Eintrittskarte, Getränke, kurzes Warten. Es ist 21 Uhr und lobenswerter Weise beginnt das Konzert der Vorband pünktlich.

Bei der Gestalt des Sängers scheint es sich um einen Zeitreisenden zu handeln. Wir kommen nicht umhin zu erkennen, dass es sich bei ihm um den zukünftigen Sohn von Don Martin und Miss Pili handelt. Die Alternative wäre, dass wir selbst in der Zeit gereist wären, was in gewissem Sinne, vorwärts, natürlich auch fortwährend geschieht. Oder haben wir den Planeten unwissentlich zu einer längeren lichtgeschwinden Reise verlassen?

Two Inch Astronaut. Was zuhause beim kurzen Anhören wie gut verhörbarer vor sich hinschrammelnder Collegerock klang, entpuppt sich als absolut umwerfend. Schräg zusammenharmonisierte Tonreihen, die Stimmung und die Stimme irgendwo zwischen Weezer, Cursive und Muse, sich respektabel auftürmender Lärm an dessen oberster Stelle die Stimme des Sängers unvergleichlich, sich quietschend überschlagend, wegbricht, oder vielleicht auch über die ebenfalls quietschend aufjaulenden Gitarren stolpert, in einem Lied vermeint das Ohr einen Hauch Jazz zu vernehmen, ein sehr präsenter e-Bass der mit schrummeligen Passagen ein wunderschön im Raum verharrendes Rauschen erzeugt. Two Inch Astronaut überzeugen als drei begnadete Musiker die ihre Instrumente virtuos und ihre Lieder abwechslungsreich beherrschen. Um das Ganze mit dem Schaumkrönchen zu zieren rufen sie auch noch Erinnerungen an den fabiosen Abend vor Jahren im Conne Island mit Bul Bul wach.

Die Umbaupause wird zum ersten CD-Erwerb, einer Jackenabgabe, und einem kurzen Sitzpäuschen auf den rechts der Bühne am Wandvorhang stehenden in zwei Reihen ansteigenden Bühnenbauteilen genutzt. Es folgt das berühmte Kollege A.-Kollegin M.-Spiel. Aufgabe des Ersteren ist es zu betonen dass die Sitzpause nur während des Umbaus statthaft ist. Sobald die Band zu spielen anfängt heißt es natürlich, hinein und hinab in den tobenden Menschenkessel vor die Bühne. Aufgabe der Zweiteren ist es unter Vorspiegelung von Zustimmung insgeheim den soeben ergatterten, leicht erhabenen Platz mit ausgezeichneter Sicht auf die Bühne unter keinen Umständen mehr aufzugeben, und auf dieses Ziel so subtil wie subversiv hinzuarbeiten.

Der Kollege wird darauf hingewiesen dass sich unmittelbar vor der Bühne die wild Herumspringenden befinden werden, und daher ein aufzusuchender Stehplatz weiter hinten anvisiert werden sollte. Das ausgegebene Signal ist somit so eindeutige wie unterschwellig nur bedingte Zustimmung. Ein „Aber“ steht im Raum. Es wird nochmals auf das erstaunlich übervolle Conne Island – an einem Montag, Entrüstung wieviele Menschen sich Montag Abend ex conditiones einen Konzertbesuch erlauben können – hingewiesen, und wie voll es da unten zu unseren Füßen ist. Kollege A. verpasst das Timing für den Einwurf, die Plätze hier oben seien gar nicht so schlecht, um keine fünftel Sekunde. Kollegin M. gibt zu bedenken dass man theoretisch ja auch am gerade befindlichen Aufenthaltsort nicht sitzen müsse, sondern genauso gut dort stehen könne, um mit einem Bein zu wippen. Kollege A. oder Kollegin M., im Nachhinein nicht mehr genau rekonstruierbar, macht das direkt hinter der aktuell eingenommen Sitzposition befindliche Eisengestänge aus, an das man sich lehnen könnte, wenn man dies denn möchte. Das Wort Seniorenstehplätze fällt.

Das alles spielt sich vor dem Hintergrund der ihre Instrumente einstimmenden Band ab. Kollege A., der die Band nicht kennt, merkt an, man könne ja für den Anfang noch kurz sitzen bleiben, bis klar ist, ob sich das Aufstehen überhaupt lohne. La Dispute betreten die Bühne. Kollegin M. setzt nun alles auf den letzten Trumpf: das Publikum stehe inzwischen so eng, eigentlich aussichtslos sich nun noch irgendwohin durchzukämpfen. Kollege A. besiegelt die Entscheidung mit der Bemerkung, Kollegin M. könne von hier aus ja sogar das Geschehen auf der Bühne beobachten, und natürlich würde er daher seinen eigentlichen Wunsch sich unten im Saal zu befinden, gerne aufgeben.

La Dispute. Alle Bandmitglieder stehen in Position, nur der Sänger fehlt noch. Die Musik setzt ein. Ein dunkler Schemen wirbelnder Gliedmaßen materialisiert wild herumhüpfend, sich drehend, und die ersten geschätzt 35 Zeilen des ersten Liedes aus der Lunge herausschleudernd auf der Bühne. Der Sänger von la Dispute hat das Geschehen betreten. Die ständig textfortschreibende Beobachtung ist durch die Erscheinung für mindestens fünf Leerzeilen eingefroren

 

 

schockstarr im Angesicht des Gleißens der auf der Bühne soeben erschienenen Energieform explodierender Fragilität.

Eine Heftigkeit die man selbst in Kenntnis der grandiosen Audiotree-Studioliveaufnahmen, wohl wissend dass es sich um eine herausragende Liveband handelt, nicht erahnen konnte.

Es sind diverse Mysterien wissenschaftlich zu diskutieren, und Beobachtungen anzustellen. Naturwissenschaftliche Analogien scheinen sich anzubieten, wenn nicht gar aufzudrängen. Warum dies so ist, wäre wiederum eine Frage, der nachgegangen werden könnte.

01 Das Mikrofonkabel. Durch seine Hand die meist das Mikrofon hält, ist der Sänger mit dem Mikrofonkabel verbunden. Trotz adlerhafter Fokussierung auf das Geschehen während der singende Derwisch seine irgendwie punkspringenden Posthardcorepirouetten dreht, oft wird mit dem ein oder anderen Arm zusätzlich Schwung geholt und aufgenommen, gelingt es nicht das Verhalten des Mikrofonkabels nicht aus den Augen zu verlieren, um zu erkennen wie es dem Sänger gelingt sich nicht hoffnungslos darin zu verheddern. Kollege A. stellt die Annahme auf, dass es sich um ein sehr dünnes, leichtes Kabel handele, und, er vermeine sehen zu können, wie sich der Sänger durchaus während seiner Drehungen darin einwickele, nach Vollendung von drei Umdrehungen das Kabel aber mit einem kurzen Schütteln von seinem Körper zu Boden gleiten lasse, und dann daraus hervorsteige. Kollegin M. ist felsenfest davon überzeugt, dass der Sänger wie beim Seilspringen bei jeder Drehung über das Kabel hinwegtanzt, kann es aber nicht durch Augenschein verifizieren. Innerlich setzt sich die Vermutung fest, dass Sänger und Kabel hin und wieder verschmelzen, und der Sänger bei Bedarf durch das Kabel hindurchmorpht.

02 Die Energie als solche. Keine detaillierteren Erörterungen. Doch wie ein Mensch fortlaufend so herumspringen und dabei laut herausschreiend singen kann sollte einen doch zumindest ein wenig mißtrauisch machen. Erst kurz vor der Zugabe kann – beinahe erleichtert — in einer Zwischenansage ein leichtes »Außer-Atem-Sein« attestiert werden. Hinweise auf die Jugend des Sängers, er befinde sich eben gerade auf dem absoluten Gipfel seiner körperlichen Leistungsfähigkeit, vermögen dieses unfassbare wie in Relation zur eigenen Leistungsfähigkeit, Menschen geringerer Selbstachtung als neutral analysierenden Wissenschaftlern, demütigende Schauspiel nicht vollends befriedigend zu klären. Training, ja. Auch die Abwesenheit jeglichen hinderlichen Fetts, und die relative Schmächtigkeit, verbunden mit keinem allzugroßen Gewicht. Ja. Nichtsdestotrotz vermeine ich nun gegen Ende des Konzerts eine zutiefst zufriedene Note im Unterton der Bemerkung des Kollegen A. zu erkennen, der Sänger würde das doch keine sechs Stunden mehr durchhalten. Fünf ja, aber keine sechs Stunden. Der Anschein physischer Naturgesetzlichkeit scheint so zumindest bruchstückhaft wiederhergestellt werden zu können.

03 Magnetisierung. Kollege A. gibt seinen Eindruck wieder, dass die im Halbrund um den Sängertanzplatz aufgestellte Band, diesen förmlich mit elektrischer Energie aufzuladen scheint, und diese Energie dann in ein starkes Magnetfeld dass der Sänger Richtung Zuhörer aussendet umgewandelt wird. Die Zuhörer richten sich wie Eisenspäne am Sänger aus, was von unserem seitlichen, leicht erhöhten Platz ebenso hervorragend studiert werden kann, wie das simultane Kopfnicken von tausend Leipzigern.

04 Mimikri und andere Methoden der Invisibilität. Am linken Bühnenrand nimmt Kollegin M. aus dem Augenwinkel immer mal wieder etwas war, doch gezieltes Hinsehen offenbart: nichts und niemanden. Erst durch häufige Wiederkehr des Schemens, und so leid es der Kollegin tut, dies nicht als Erfolg ihrer zielgerichteten Forscheraufmerksamkeit ausgeben zu können, gelingt dann doch zufällig die Entdeckung. Unter einem blondem, leicht gelocktem Haarschleier nahezu unsichtbar geworden, gesichtslos der Wahrnehmung entzogen, steht ganz links ein zweiter Gitarrist. Der Bassist der für die Gesamtdauer des Konzertes dem Publikum den Rücken zukehrt, entschwimmt der Wahrnehmung ebenso. Er scheint beinahe optisch mit der großen Verstärkerbox zu verschmelzen, vor der er steht. Die beiden unsichtbaren doch durch ihre Instrumente hörbaren Mitglieder der Band bilden so einen sehr interessanten Kontrast zum gut sichtbaren Triumvirat aus Schlagzeuger, erstem Gitarristen und Sänger.

05 Versmaß. Vom nur leicht melodiös verbogenen Sprechgesang des Sängers geht eine hypnotische Sogwirkung aus, der sich die Aufmerksamkeit nur schwer entziehen kann, obwohl die Inhalte der Texte akustisch kaum verstanden werden. Es ist offensichtlich dass da jemand ist, der sehr viel, tiefgehendes, bedeutendes, ihn innerlich bewegendes und in ihm grabendes, zu erzählen hat. Doch dass man sich so zum Zuhören bewegt fühlt, obwohl man die Worte kaum versteht, wirkt doch ein klein wenig ominös. Und wie einen die Melodie des Sprechgesangs noch auf Stunden auf dem Nachhauseweg und durch die Träume hinweg verfolgt rätselhaft, magisch, sowie beinahe ein klein wenig lästig. Leider war Kollegin M. auf dem Gebiet der Daktylen, Jamben und Trochäen nie sehr talentiert, umso gewagter muss ihre These eingestuft werden, dass der Bann der vom Vortrag des Sängers ausgeht, auf einem Versmaß fußt, beziehungsweise einer harmonisch aufeinander abgestimmten, in sich verwandten doch variantenreichen Versmaßgruppe, dem La Disput’schen Versmaßgefüge. Es wird erzählt, erzählt und erzählt, und dann, eine kurze Pause, eine Wendung, ein lauter Aufklang, das Herz bleibt stehen, lauscht gebannt, geht mit, über die Erzählung wurde der Spannungsbogen immer weiter und weiter aufgezogen, und dann ist da immer dieser Moment, kurz schwebend stillstehend, bevor sich die gesamte Wucht der erzählerischen Quintessenz in so griffigen, mitsing- und hüpfbaren, wie metallgewittrigen Hymnen entlädt.

Doch genug der Beobachtungen, was wäre ein Wissenschaftler wert, hätte er kein schlagendes Herz in sich, dass Erlebnisse jedweder Art vollkommen unvoreingenommen und unanalytisch, einfach nur auf sich wirken lassen kann?

Die Begeisterung und die Faszination die La Dispute, insbesondere live, auslösen, liegen in der Eindringlichkeit des erzählenden Sängers und in seiner energiegeladenen Interaktion wie sie für die überphilantropen Individuen des Hardcore typisch ist, besonders mit den ersten Reihen des Publikums, Handshakes, kumpelhaftes Kopf an Kopf, nach oben reißen der Arme um Passagen in den Liedern zu akzentuieren, und das Teilen des Mikrofons mit allen die textfest genug sind, und das scheint an diesem Abend mit Ausnahme zweier Amateurwissenschaftler der ganze Saal zu sein.

Doch das alles wäre nichts, wäre nicht ausreichend, würde es nicht von ebenso feinfühlig wie wuchtig ausgelegter Musik der Instrumente untermauert werden, der durchweg wippbare Takt, der sich immer mal wieder so wild Bahn bricht, dass man innerlich ebenso wild derwischgleich wie der Sänger springt, die entspannte Note die der erste Gitarrist mit surfend tänzelndem Hüftschwung und verträumtem Gesichtsausdruck plingende Klangschwärme aus dem Gitarrenkorpus entsendend dem Ganzen beigibt, das wummernd akzentuierende Schlagzeug, das Aufheulen der Gitarren, den Taktwechseln, Brüchen, melodischen Windungen und Wendungen, dazwischen sacht ausgebreiteten Ruheteppichen, da ist dieses Lied, in dessen Beginn zwei Gitarren sich umschlingende hell einzeln angeplinkte Töne entsenden, die ein Motiv bilden das einen fern an etwas Klassisches und an Muse denken läßt. Und dann erscheint er wieder, der Punkt an dem, nachdem sich die Erzählung Vers um Vers immer weiter aufgeschichtet hat, die Instrumente noch relativ zurückgehalten, für einen Moment alles in der stillen und regungslosen Luft hängt, bevor der hardcore-Metal-Refrain losgelassen über die Zuhörermenge sirrt.

Durch die Position außen am Rand bildet sich automatisch ein beobachtender Blickwinkel. Die tobende Menge vor der Bühne, es ist pure Freude etwas abseits stehend die positive Energie zwischen Band und Publikum hin und herspringen zu sehen, und zugleich selbst davon mitgerissen zu werden.

Zwei Zugaben, zu einem Lied wird angefügt dass es aus einer Zeit stammt, zu der sie sich nie hätten träumen lassen es einmal außerhalb Michigans zu spielen, und das innerlich gefühlte Wunder und die Dankbarkeit es geschafft zu haben, ein Leben in Musik verwirklichen zu können, Menschen mit der eigenen Musik zu berühren, wirken durch das Stück hindurch.

Der Saal leert sich langsam, die zwei Kollegen haben sich noch einmal hingesetzt und resümieren das Konzert, das neue Album von la Dispute wird für die Institutsbestände angeschafft. Gegenseitiges Beglückwünschen sich motiviert zu haben Montag abends zu einem Konzert zu pilgern, und auch hier ist ein klein wenig Verwunderung anzumerken, hier zu sein, es geschafft zu haben! Dem Leben ein Schnippchen geschlagen, im Kleinen. Wie wohltuend dem Kreislauf des Alltags entronnen zu sein. Und zu was für zwei Konzerten. Ha!

Bis nach Hause im Kopf das Echo unbestimmter Worte im Versmaß. Morgens beginnt die Suche nach der Wildlife-CD, die vor zwei Jahren der Visions beilag. Mehrfaches Absuchen jedes Raumes erfolglos, das Leid die den Worten inneliegende Melodie ohne Schnörkel, Verbiegung und Verzierung nur im Kopf wiederhallend, ohne Auflösung durch tatsächliches Hören. Und dann Erlösung nach der Rückkehr aus der Dusche. Auf dem Küchentisch liegt es. Das Album. Kollege P. hat es umsorgend und ohne Umschweife gefunden. Das Lied mit dem umschlingenden Beginn der Gitarrentöne, es ist Lied Nr. 6, safer in the forest, btw.

Die kommenden Wochen werden wohl dem Studium des Gesamtwerkes und darin eingebunden der Freude über die neben der genialen Schönheit der Musik nicht minder beeindruckende literarische Größe der meist zerbrochenen Schicksalen gewidmeten mit nur wenig Hoffnung doch umfassender Empathie durchsetzten Texte gelten, die man mit 60 Zeilen wie King Park in ihrer Intensität der geschilderten Figuren und Handlung neben tausendseitigen russischen Werken der vergangenen Jahrhunderte und shakespearschen Melotragödien gestellt sehen möchte.

noch Kommentarlos
Kommentar schreiben:

Der Kommentar muss möglicherweise erst freigeschaltet werden, bevor er hier erscheint ...