Cryptonomicon, Ameisenchoreografien und Schnattermaten

Neil Stephensons Cryptonomicon ist eine beständige Inspiration in der Wikipedia zu blättern. Es blinkt und glitzert in seiner Erzählung auf einer dem durchschnittlichen dicken Wälzer entsprechenden Seitenzahl ständig verführerisch von Menschen, Orten oder Dingen, von denen man bisher höchstens vage Kenntnis hatte, und von denen man vermutlich nie wirkliche Kenntnis besitzen wird, selbst wenn man sie relativ zum Vorkenntnisstand etwas vertieft haben sollte. Eine kleine, rasch wieder zuwehende Mulde in einer weiten Wüste.

Die Erzählung flirrt und wabert zwischen verschiedenen Personengruppen die im zweiten Weltkrieg in irgendeiner Weise in das Verschlüsselungsgerangel involviert oder von den Auswirkungen betroffen sind, und einer bunt gemischten Gruppe von Technikfreaks die mit ihrer Firma Epiphyte Corp. in unserer Zeit einen Datenhafen in Südostasien einrichten wollen und dabei immer engmaschiger von den Großen, Mächtigen und Gefährlichen umrankt werden. Irgendwie werden diese Erzählstränge zusammengeführt werden. Doch eigenartiger Weise brennt hier keine Neugier wie dies wohl geschehen wird. Dafür lenkt das in der Erzählung beschriebene Weltwissen zu sehr ab, aber ohne die eigentliche Handlung nebensächlich oder langweilig werden zu lassen. Cryptonomicon steht dabei auf den Romanen seines Barockzyklus Quicksilver, Confusion und The System of the World wie auf einem Fundament, auf dem die handelnden Personen in ähnlichen Charaktereigenschaften und Interessen hochgezogen werden wie ihre Ahnen, die dort durch die Erzählung zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert gehetzt, getrieben und ausgehend von England durch die ganze Welt gescheucht werden. Durch eine Welt in der Wissenschaft, Handel und Geldwesen anfangen dem Adel Bedeutung abzutrotzen. Stephenson vermittelt einen facettenreichen Eindruck davon, wie die Welt damals beschaffen, und was in dieser Welt für verschiedene Menschen von Bedeutung war.

Bei beiden Erzählungen ist man fast versucht sein Wissen systematischer zu erweitern, indem man wirklich jedem Hinweis, jedem Krummen nachgeht. Und das nicht nur oberflächlich, indem man einen Wikiartikel in ein paar Minuten überfliegt. Aber so würde man nicht sehr schnell im Buch vorankommen. Und so begnügt man sich damit die Ahnung von den Dingen über die man nichts weiß mit schemenhaften Informationsfetzen zu füttern. Newton, der ganze Club aus verrückt kuriosen Gestalten der Royal Society mit all ihren wissenschaftlichen Versuchen, der Wiederaufbau von London nach dem Brand von 1666, die zwischen den Anhängern verschiedener religiösen, politischen und weltlichen Anschauungen brodelnde Athmosphäre, geschichtliche Ereignisse, die Bedeutung der Gründung der Bank of England, die Niederlande als Handels- und Wirtschaftszentrum, Kolonialisierung und Sklaverei, Bergbau und Alchemie, Leibniz, Differentiale und Integrale, …

Vor kurzem hat mich der Wikiweg über Alan Mathison Turing und die Funktionsweise der im Buch oft erwähnten Turingmaschine zu folgenden schönen Spiellinks geführt.

Christopher Langtons Ameise. Eine Ameise läuft über ein weißes Raster und folgt dabei definierten Bewegungsregeln. Überquert sie ein Feld, wird dieses von schwarz nach weiß oder umgekehrt gefärbt, je nach Feldfarbe krabbelt sie rechts oder links weiter. Unter bestimmten Bedingungen entsteht aus den anfänglich chaotischen Strukturen nach einiger Zeit ein Muster. Sehr hübsch zu betrachten und davor zu verweilen sind jedenfalls die vordefinierten Anfangspositionen.

Turing-Test und Chatbots. Ein süchtigmachender Zeitvertreib. Mit einer Datenbank, die mit menschlicher Kommunikation gefüttert wurde sprechen, und sich über die absolut nicht treffenden Antworten amüsieren. Oder über die Treffenden faszinierend gruseln lassen. Oder sich über witzig abgelenkte Erwiederungen freuen, vor allem wenn man dadurch sein Repertoire an in den Wahnsinn treibenden Antworten erweitern kann:

J: Are you a woman?
M: Why do you ask?
J: because I want to know.

Wenn dieser Schnattermat nur nicht so unfassbar und unvorhersehbar zu frechen Ausbrüchen neigen würde. Mein erstes Gespräch mit Jabberwacky lief in etwa so ab:

J: Some humans are naturally gifted.
M: Thank you.
J: You are not welcome.

3 Kommentare
  1. admini · August 2, 2008 @ 15:38

    Ahhh. Ich könnte die ganze Zeit nur diese Kommunikationen wiedergeben:

    M: it is saturday afternoon.
    J: Wow. I think I traveled in time.
    M: Did you com from the future or from the past?
    J: You think that is funny?
    M: Do you have the feeling I am not taking you serious?
    J: Mostly I just feel sick.

    Es ist als würden einem diese einseitig automatisierten Gesprächsbedingungen einen vollkommen neuen und freien Blick darauf ermöglichen wie menschliche Kommunikation funktioniert, und welchen Regeln sie folgt. Vor allem auch dann, wenn sie nicht stimmig ist.

  2. admini · August 2, 2008 @ 15:38

    … und ich glaube ich würde Jabberwacky gerne Marvin nennen.

  3. admini · August 2, 2008 @ 15:40

    M: Would you mind, if I call you Marvin?
    J: No, but that’s not my name. My name is Sam. What’s yours?