Kamikaze Fest mit Talking to Turtles ::: A Dead Forest Index ::: White Wine | 1.07.17 | Arena im Panometer

… mehr drinnen draußen

Es schickt sich an prächtiges Festivalwetter zu werden! Noch ist der Himmel zwar bedeckt, die Luft schon angereichert mit Feuchtigkeit, aber abgesehen von einem nachmittäglichen Schauer ist das Wetter doch leider noch nicht anders als trocken zu nennen.

Am Panometer vorbei, eine kurze Erinnerung an das lunare Strahlen des Narrenturms in Wien, weiter zur Arena, im Näherkommen wird die von Weitem wahrgenommene Musik immer deutlicher die von von Talking to Turtles. Schnell durch den Einlass und gleichzeitig vom »Innen draußen« Eindruck des luftigen Gebäuderestes, unerwartet grasbedecktem Boden und dem durch dieses abgemauerte Rund schwebenden glücklich freien Klang aufgefangen.

Im weit ausgedehnten Innen nur wenige sich darin verlierende Menschen, dadurch noch mehr das besondere Gefühl der umgebenden Leere und Luft, ein kleines abgekapseltes Universum für sich.

Wie damals im runden Raum des Rolling Stone Weekenders plingen, singen, und stimmen sich Talking to Turtles mit ihrem Gesang und dem Klang der Instrumente in wunderschönen Weisen, in denen lauteres Krachen und Schrammeln, oder energischere Tastentöne sanft eingebettet sind, mit viel Charme ins Herz und Wohlgefühl.

Der Blick wandert die cremeweiß getünchte Mauer mit den eingelassenen Fenstern, ein jedes in einem anderen Muster aus durchbrochenen und noch bestehenden Glassegmenten, entlang, schweift von der Musik begleitet nach oben in die geometrische Stahlträgerkonstruktion des fehlenden Dachs, und das Sein verliert sich. In den Stimmpausen tiefenentspannte Überbrückungsplauderei mit dem Publikum. Und dazwischen eine an die Eltern introvertierter Kinder gerichtete Hymne, sie sich frei entfalten zu lassen. Please _ let him _ stay _ quiet.

Begleitet durch den immer kälter durchpustenden Wind, der die Verbindung zur Rolling Ostsee eindringlich näherbringt, kommt einzig die Sehnsucht nach einem abschirmenden Strandkorb noch als Wunsch auf.

Nach dem Ende des letzten Lieds sieht man die beiden schwarzgekleideten Sherrys bepackt mit ihren Instrumentenkoffern über die in der Phantasie sich viel weiter scheinende, beinahe endlos ausufernde, Graswiese hinter die Bühne wandern. Ein episches Bild!

Während der kurzen Umbauzeit kündige ich an, mal nachzusehen ob sie Weißwein haben. Hr. Walte erwidert bestimmt, Weißwein komme erst später.

Mit Weißwein in einem Glas, nicht in einem schon erwarteten Plastikbecher, trotte ich über die Wiese zum zwischenzeitlichen Wartesitzplatz am leicht erhöhten gemauerten Umlauf am Rand zurück, begleitet von einzelnen Regentropfen die den Weißwein in eine Schorle verwandeln.

Wie bei Talking to Turtles, scheint auch die wie von Feenzauber umgebene Musik von A Dead Forest Index wie für solche Orte im Freien, vor allem in solchem Wetter, zu existieren. Sonnenschein würde sich hier atmosphärisch eher störend auswirken. Der Kontrast aus den heftig nicht Beat sondern Melodie tragenden Schlagutensilien, der bisweilen weit im Postrock aufflirrenden, dann wieder wenige ruhig abgesetzte Rauschklänge gebenden Gitarre und des wehen, klaren und verwehenden Gesangs, umgeben von dieser beinahe in der Natur-Erfahrung, grün, freier Himmel, spürbares Wetter, das Raunen und der Wind … Musik und Naturglück in einem. Die Klänge selbst scheinen diese Freiheit zu fühlen und darin aufzugehen. Jedes einzelne Stück ist von einem schwer zu fassendem Zauber, und fühlt sich an wie ein Leben.

Letzte Umbaupause. Der Regen entschließt sich endlich zu bleiben. Miniaturfestivalwetter. Endlich!

In einer wie ausgewählt kurzen Pause, in der die Regentropfen nur vereinzelt fallen, nutzt Joe Haege die Anonymität des Raums vor der Bühne, um sich auf einem kleinen herbeigeschleppten Picknickstuhl niederzulassen, und nacheinander Hemd, Hose und Schuhe in sein Bühnenoutfit auszuwechseln. Das Gras der Arena scheint ihm ein Hemd in noch leuchtenderem Grün erforderlich zu machen. Derweil wird auf der Bühne selbst fleissig verkabelt und drapiert. Der Regen setzt wieder ein. Das Konzert ebenso. Die Musik entfaltet eine Art Voodoozauber. Durch den Regen hindurch, vor, zur Bühne!

Der Musik von White Wine ausgesetzt zu sein, ist ein bisschen so, als befände man sich in einem räumlichen Punkt eines kunterbunten Karnevaltreibens der Kulturen, an dem sich drei oder mehr musikalische Darbietungen die unterschiedlicher nicht sein könnten, überschneiden, und all dies Gegensätzliche wirkt gleichzeitig auf einen ein, und doch scheint es auf nicht entschlüsselbare Weise zusammenzugehören, während man an diesem Punkt steht, zu verschmelzen und etwas sinnvolles Ganzes zu bilden. Musik aus allen vergangenen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts rauscht durcheinander, am deutlichsten kann man es am Gesang festmachen, weit ausholendes Swingtainment, zerquetschend umklammernden Pop, music noir, Show Tunes-Allüren, Trance, Geschrei, Theater, Wahnsinn, und plötzlich wieder daraus emportauchende melodiegetragene Gesangssequenzen. Aber alle Instrumente und alternativen Klangquellen wirken daran mit, alles wird durch den wunderbaren dissonanten Zauberklang eines in Spiralen geschnittenen High-Hats weiter zersilbert, von einem elektronisch verstärkten Fagott brummend und wummernd in trance gesetzt, von diversen Schlagflächen aus Metall und e-Drums und Beats aus den Tasten zerfetzt und sattem Gitarrenklang verstärkt. Die Gesamtheit der Musik wird dabei in den tanzenden Zuckungen von Joe Haege visualisiert, während er wie besessen an seinem mit e-Drums ausstaffierten Mikrofonständer rasselt, trommelt, singt, in Tasten oder die Gitarre schlägt, und all das ist von so tanzbarem Beat unterspült, dass es in der Tat am sinnvollsten scheint mitzuhüpfen um sich so irgendwie im Gewicht dieser Musik die einem um den Körper klatscht auf den Beinen halten zu können.

Wie von Hr. Walte antizipiert ist die Bühne zu klein für gewisse Bewegungsnotwendigkeiten. Joe Haeges erster Besuch im Publikum mit sich in Zeitlupe verrenkenden Gang und hinterherschleifendem Mikrofonkabel endet hinter der kleinen Publikumschar, wo er sich im regengetränkten Gras niederkniet und meditierend dem ersten Einsatz des Fagotts lauscht, die Aufmerksamkeit in Folge enervierend entzweigerissen zwischen dem Geschehen auf der Bühne, und diesem verrückten Mann der hinter einem sitzt, und den man besser nicht aus den Augen lassen sollte. Nach endlosen Momenten wechselt die Musik in wilden Sambarhythmus, Joe Haege springt mit Rassel und Mikrofon auf und schlägt abwechselnd die Rassel auf das Mikrofon und das Mikrofon auf einen dafür vermutlich eigens vorher ausgespähten im Gras eingelassenen Gullideckel, was einen wirklich herausragend schönen und viel zu selten gehörten dumpfherben Klang ergibt. Dazwischen singt er lauthals ins Mikrofon, die Illusion eines starken von den runden Mauern zurückgeworfenen Echos, als seine Stimme delokalisiert aus den von der Bühne gerichteten Lautsprechern an einen dringt, zerrt am Selbst, das Gefühl des erlebten Wahnsinns wird weiter verstärkt. Weiter geht’s wieder vor zur Bühne, auch auf das Holz des Bühnenbauteils kann man hervorragend mit dem Mikrofon schlagen, und wieder hoch zu seinen Kumpels, die während der ganzen Zeit ihr eigenes kleines Klangunwetter weiter zelebriert haben.

Es ist Zeit das Publikum fürsorglich darauf hinzuweisen, dass es regnet.

… it is raining. … just to let you know …

Sein zweiter Sprung ins Publikum findet zu den Zeilen it’s not a body, it’s a temple of lines statt, zu Beginn unverständlich ins Mikrofon geflüstert, bis die schiere Wucht dieser phänomenologischen Erkenntnis wieder in einem Malstrom aus Gesang, Schrei, und Instrumenten durch die Arena strudelt.

… by the way, it’s still raining, just in case you didn’t notice …

Das letzte Lied ist von einem durchdringend aus manisch schnell angeschlagenen repetitierten Tasten gehämmerten Pianolauf getrieben, der sich nach Instrumentwechsel im Schlagzeug weiter zu überschlagen scheint, was eigentlich nicht möglich sein sollte, aber vielleicht auch nur daran liegt, dass die Pianolinie im Resonanzraum des leergefegten Kopfs immer weiter hallt, schwirrt und kreist. Das Publikum tropft, die meisten haben sich von schützenden Regenschirmen getrennt, da diese im Angehör dieser Musik nicht angemessen scheinen, und sowieso am wilden Herumspringen hindern. Zurück bleibt ein vollständig fragmentierter Geist mit lose baumelnden Synapsenenden. Nichts ist mehr an dem Ort wo es vorher war. Neues kann entstehen. Der große Magier hat sein Ziel an diesem Abend mal wieder erreicht.

»There’s so much complexity in life and human emotion that I have a hard time feeling convinced a song is always either happy, sad, melancholic, angry or scared. I look at these emotions like elements that are constantly colliding with each other, so it’s my duty as a songwriter to reflect that. I want to fall in and out of the cracks of genres, finding the nerves not yet hit. It’s usually in the disturbing part of the spectrum …«

(whitewinemusic.com/press/)

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