woolf ::: androgyner geist

»der Anblick war nicht ungewöhnlich, seltsam war die rhythmische Reihenfolge, mit der meine Einbildungskraft ihn ausgestattet hatte … [zwei Menschen die in ein Taxi steigen und davonfahren, ein Mann und eine Frau] … der Anblick zweier Menschen die die Straße entlangkamen und sich an der Ecke trafen, scheint den Geist von einem Druck zu befreien, dachte ich. … vielleicht ist es mühsam, sich das eine Geschlecht als vom anderen getrennt zu denken, wie ich es die letzten zwei Tage getan hatte. Es steht im Widerspruch zur Einheit des Geistes. Jetzt war die Mühe verschwunden und die Einheit durch den Anblick der beiden Menschen … wiederhergestellt.

… Der Geist ist auf jeden Fall ein sehr geheimnisvolles Organ … über den rein nichts bekannt ist, obwohl wir ganz und gar von ihm abhängen. Warum kommt es mir so vor als gäbe es Lügen und Widersprüche im Geistigen, so wie der Körper durch eindeutige Ursachen überlastet werden kann? … wo der Geist doch jederzeit und in jedem Moment zu einer solchen Konzentration fähig ist, dass er keinen eigenen Daseinszustand zu besitzen scheint. … [führt verschiedene Beispiele an, wohin der Geist wandern, das Denken sich wiederfinden kann, bei zwei Menschen die man beobachtet, als Teil einer Menge] … er kann durch seine Väter und seine Mütter zurückdenken … zweifellos ändert das Denken ständig seinen Fokus und rückt die Welt in unterschiedliche Perspektiven. Aber einige dieser geistigen Zustände scheinen weniger angenehm zu sein als andere, selbst wenn sie sich spontan einstellen. Um dauerhaft darin sein zu können, hält man unbewusst etwas zurück, und nach und nach wird die Verdrängung anstrengend. Aber es mag einen geistigen Zustand geben, in dem man ohne Anstrengung dauerhaft sein kann, weil nichts zurückgehalten werden muss. … [und dieser Taximoment war einer davon] … fühlte es sich an, als hätte sich der Geist, nachdem er gespalten gewesen war, in natürlicher Verschmelzung wieder zusammengefügt.

… man hat instinktiv einen tiefsitzenden wenn auch irrationalen Hang zu der Theorie, dass die Einheit von Mann und Frau zur größten Zufriedenheit führt, zum vollkommensten Glück. … die Frage auf, ob es im Geist zwei Geschlechter gibt, die den zwei Geschlechtern im Körper entsprechen, und ob auch sie verschmelzen müssen, damit man vollkommen zufrieden und glücklich ist. Und ich fuhr fort dilettantisch einen Plan der Seele zu entwerfen, wonach in jedem von uns zwei Mächte den Vorsitz haben … und im Gehirn des Mannes herrscht der Mann über die Frau, und im Gehirn der Frau die Frau über den Mann. Der normale und angenehme Daseinszustand ist der, wenn beide in Harmonie miteinander existieren … das meinte Choleridge vielleicht als er sagte, dass ein großer Geist androgyn ist.

… Vielleicht neigt ein androgyner Geist weniger als der eingeschlechtliche Geist dazu, solche Unterscheidungen zu treffen. Er meinte vielleicht, dass der androgyne Geist mitschwingt und durchlässig ist, dass er Gefühle ungehindert übermittelt, dass er von Natur aus schöpferisch ist, weiß strahlend und ungeteilt.

…glaube ich nicht dass sich Begabungen, ob sie den Geist oder den Charakter betreffen, wie Zucker oder Butter abwiegen lassen … das ganze Ausspielen des einen Geschlechts gegen das andere, der einen Qualität gegen die andere; der ganze Anspruch auf Überlegenheit und das Zuschreiben von Unterlegenheit gehört in die Grundschulphase der menschlichen Existenz, wo es Seiten gibt, und des die eine Seite nötig hat, eine andere Seite zu schlagen und es von allerhöchster Wichtigkeit ist, auf ein Podest zu treten und aus den Händen des Direktors persönlich einen hochverzierten Topf entgegenzunehmen. Werden die Menschen erwachsen, hören sie auf, an Seiten zu glauben, oder an Direktoren, oder an hochverzierte Töpfe.«

(Virginia Woolf, ein Zimmer für sich allein)

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